Das Gras aufwecken
Wenn das Frühjahr naht, heißt es für die Buben von Zimmermoos Glocken, Federn und Lederhosen bereit halten und auf die Einladung des Melchers warten. Und auch die Mädchen warten, denn zwei von ihnen kommt Jahr für Jahr die Ehre zu, als Sennerin dazu beizutragen, dass das Gras in Zimmermoos gut wächst.
Frühlingshafte Tradition
Die Vögel zwitschern immer lauter, die Sonne scheint immer länger und die Gespräche der Zimmermooser Kinder und Jugendlichen drehen sich immer mehr um ein Thema. Denn es sind nur noch wenige Wochen, dann erfüllt einen Tag hindurch wieder lauter Glockenschall die Zimmermooser Luft. Wie im Vorjahr ist Lucas der Älteste unter den Burschen. Damit wird er auch heuer wieder als Melcher mit der Kraxen am Rücken vorangehen, gefolgt von den beiden Sennerinnen, den Kumpf- und Glockenträgern. Gemeinsam wandern sie ganz traditionell durch Zimmermoos. Von Bauernhaus zu Bauernhaus. Sie, die Zimmermooser Grasausläuter.
Lasst das Gras wachsen
Das Grasausläuten ist einer der uralten Tiroler Bräuche. Zumeist Kinder ziehen dabei mit Glocken oder Schellen lärmend über die Felder und Wiesen von Hof zu Hof. Eine lautstarke Verabschiedung der kalten Jahreszeit und gleichzeitig Begrüßung des Frühlings. Wie der Name schon sagt, soll das Gras herausgeläutet, zum Wachsen angeregt werden.
Melcher sucht Sennerin
Auch hier in Zimmermoos reichen die Anfänge des Brauchs weit zurück, bis in die 30iger oder gar noch weiter. „Schau, das Foto ist zum Beispiel von 1945. Mein Schwiegervater war damals einer der Grasausläuter.“ Sylvia Adler-Kern schiebt ein altes Schwarz-Weiß-Bild über den Tisch. Acht Kinder sind darauf zu sehen. Die Hälfte der damaligen Truppe. „Kurz vor der ersten Rast teilten sich die Grasausläuter damals, weil sie so viele waren. Eine Gruppe marschierte zum Winkl-Bauern, die andere zum Larch. Dort wartete auf die Kinder ein Stück Gugelhupf, bevor es weiter ging.“ Damals wie heute dürfen nur Zimmermooser an dem lauten Treiben teilnehmen. Sobald sie die Volksschule besuchen, können die Buben mitmachen bis sie 16 Jahre alt sind. Der jeweils Älteste unter ihnen ist der Melcher. Er organisiert das Grasausläuten, lädt die anderen Burschen ein und wählt unter allen Zimmermooser Mädchen zwei aus, die zwei Sennerinnen. Für diese Aufgabe auserkoren zu werden, ist eine große Ehre.
Die zwei Mädchen
Den Sennerinnen kommt dabei eine äußerst wichtig Rolle zu, singen sie doch bei jeder Station, das bekannte Tiroler Lied: In die Berg bin i gern. Sylvias Ältester führte vor inzwischen fünf Jahren die Grasausläuter an, ihre große Tochter Eva durfte die Gruppe schon zweimal als Sennerin begleiten. „Als sie zum ersten Mal auf ihrer Grasausläuter-Tour bei uns Station machte, hatte ich Tränen in den Augen. Eva trug nämlich das Dirndl, das ich 33 Jahre zuvor in der Schule genäht hatte. In dem Dirndl steckte so viel Arbeit und Mühe. Sie damit zu sehen, berührte mich sehr.“
Schiefe Hüte & hängende Hemden
Steffi Schneider, die neben Sylvia sitzt, nickt bei den Erzählungen immer wieder zustimmend. Der Familienhof ihres Mannes ist eine der insgesamt 42 Stationen der Grasausläuter von Zimmermoos. Nicht mehr lange, dann ist ihre älteste Tochter im Sennerinnnen-Alter. „Unser Hof liegt eher am Ende der Tour. Bei uns sitzen die Hüte nicht mehr ganz so akkurat, die Hemden hängen aus der Lederhose und die Blumensträuße sind schon beim Welken“, lacht Steffi. Hut, Hemd, Lederhose gehören genauso zur „Grundausstattung“ wie die Gockelfeder am Hut und die Glocke, die mit dem Alter immer größer werden sollte. „Oh ja, die Glocke, das ist eine echte Prestigesache. Sie darf keinesfalls kleiner sein, als die eines jüngeren Grasausläuters. Das habe ich einmal so richtig vermasselt. Was hat mein Sohn geschimpft, als seine Glocke damals zu klein war“, schmunzelt Sylvia.
Geschoben & Gezogen
Das Zimmermoser Grasausläuten läuft Jahr für Jahr nach dem gleichen Schema ab. Die gleiche Route, die gleichen Stationen. Um neun Uhr früh geht es los. Zur Mittagszeit wird bei Andrea im Egghof eingekehrt. Meist tischt die Bäuerin den hungrigen Grasausläutern Pizza auf. Eine Stärkung, die dringend notwendig ist, denn ihr Weg ist nicht einfach. Immer weiter geht es hinauf.
Anstrengung zum Schluss
Ein Hügel ist besonders steil. Dort müssen die Großen einen Extraeinsatz einlegen.
Sie funktionieren die langen Stecken der Sennerinnen um, hängen die Glocken der Jüngeren daran auf und tragen sie so – einer vorne einer hinten - nach oben. Der Melcher schaut, dass alle mitkommen. Die Kleinsten werden im Fall geschoben und gezogen. „Vermutlich jede Mutter der kleineren Grasausläuter flüstert vor dem Start dem Melcher zu, dass er anrufen soll, wenn ihr Sohn zu erschöpft ist. Aber das würde der Stolz der Kinder nie zulassen, niemand gibt auf. Die Kinder wachsen am Grasausläuten. Jeder für sich. Die Großen an der Verantwortung und die Kleinen lernen durchzuhalten“, fasst Sylvia zusammen. Zum Abschluss des Tages gibt es beim Holzinger, der letzten Station, noch eine Jause. Die Süßigkeiten und das Taschengeld, das die Kinder von den Bauern für das Aufwecken des Grases erhalten, werden hier auch gleich gerecht aufgeteilt, bevor es ans Spielen und Toben geht, bis die Eltern die müden Kinder und Jugendlichen abholen.